Wie die Melsunger zu dem Namen Bartenwetzer kamen
Veröffentlicht von Hans Jürgen Groß in Sinnhaftes und Geschichten · Donnerstag 26 Sep 2024
Tags: Melsungen, Bartenwetzer, Märchen, Historie, LandgrafMoritz, Alchemie, Rosenkreuzer, Toleranz, Respekt, Waldarbeiter, Brücke, Handelswege, Fulda, Sandstein, Anagramm, Worte, Gemeinschaft, MelsungerLand, Grimmheimat
Tags: Melsungen, Bartenwetzer, Märchen, Historie, LandgrafMoritz, Alchemie, Rosenkreuzer, Toleranz, Respekt, Waldarbeiter, Brücke, Handelswege, Fulda, Sandstein, Anagramm, Worte, Gemeinschaft, MelsungerLand, Grimmheimat
„Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott,
und das Wort war Gott."
(Johannes 1:1)
Ein Märchen über die Macht der Worte.
In jenen Tagen, da das Wünschen noch half, wie die Brüder Grimm zu berichten wussten, lag an einem Knotenpunkt mächtiger Handelswege eine blühende Stadt namens Melsungen. Händler aus fernen Ländern zogen mit ihren Waren über die mittelalterlichen Pfade und bescherten der Stadt Wohlstand und Leben.
Doch wie der Mond seine Phasen wechselt, so wendet auch das Schicksal oft sein Antlitz, und die Stadt musste schmerzvolle Prüfungen erdulden. Ein verheerender Brand hatte das stolze Rathaus und viele der kunstvollen Fachwerkhäuser vernichtet. Auch die alte steinerne Brücke über die rauschende Fulda, die das Herz der Stadt mit den umliegenden Wäldern verband, war von Hochwasser und treibenden Eismassen zerstört worden. Ein einfacher Fährdienst ersetzte die Brücke, doch dieser konnte den Handel und das tägliche Leben der Bürger nur mühsam aufrechterhalten.
Die Melsunger jedoch waren zähe und unbeugsame Menschen. Sie bauten ihre Stadt wieder auf, und unter der gütigen Herrschaft des jungen Landgrafen, der ihnen wohlgesonnen war, errichteten sie eine neue, prächtige Brücke aus Sandstein. Dieses Meisterwerk, das sich in den Fluten, der Fulda spiegelte, war verziert mit dem geheimnisvollen Anagramm (WGNB DBSU SDMK), welches den Segen des Landgrafen in Rätseln verbarg. Dieser Herrscher, so flüsterte man sich ehrfürchtig zu, beherrsche nicht nur die Gesetze des Reiches, sondern auch die verborgenen Kräfte der Alchemie und sei ein Mitglied der geheimen Bruderschaft der Rosenkreuzer.
Tag für Tag überschritten nun die Waldarbeiter die Brücke, ihre Äxte auf der Schulter, um in den dunklen Wäldern jenseits der Fulda zu arbeiten. Ihre Werkzeuge – die Barten – schärften sie an den weichen Sandsteinen der Brücke, und bald prägten sich tiefe Einkerbungen in das steinerne Kunstwerk. Die wohlhabenden Bürger der Stadt, die den Bau der Brücke mit ihren Mitteln und ihrer Kraft unterstützt hatten, sahen dies mit wachsender Besorgnis. „Schaut nur“, flüsterten sie sich murrend zu, „kaum ist die Brücke vollendet, und schon wird sie von den unachtsamen Bartenwetzern beschädigt!“
Der Unmut wuchs, und die Klagen erreichten bald die Ohren des weisen Landgrafen. Er ließ die Bürger zu sich kommen und hörte geduldig ihren Sorgen zu. Lange verharrte er schweigend, dann aber erhob er seine Hand und sprach: „Ich verstehe eure Furcht um das Werk, das ihr mit so viel Mühe erschaffen habt. Doch vergesst nicht, die Waldarbeiter, die ihr Bartenwetzer nennt, sind das Herz und das Rückgrat unserer Stadt. Ohne ihr Tun blieben unsere Herde kalt und unsere Häuser unvollendet. Lasst sie gewähren! Sollten meine Worte aber in der Leere verhallen, dann möge der Name dieser Stadt auf ewig mit diesen armen Menschen verbunden sein.“
Entsetzt über die Strenge der Offenbarung wagten die Bürger nicht, sich dem Befehl des Landgrafen zu widersetzen. Die Zeit verging, und die Worte des Landgrafen gerieten im Sturm der Tage in Vergessenheit. Ein nicht enden wollender Krieg zog über das Land und bereitete den Menschen Kummer und Leid. Doch die Bartenwetzer, wie man sie fortan nannte, schärften weiterhin ihre Äxte an den Steinen der Brücke.
Eines Tages, die Prophezeiung des Landgrafen war längst aus den Köpfen der Menschen gewichen, wurde die steinerne Brücke erneuert. Und wieder erhob sich der Unmut der Bürger über die Waldarbeiter, die mit ihren Barten Spuren an den Steinen hinterließen. Da kamen Fremde in die Stadt und sahen die Bartenwetzer auf der Brücke stehen. Mit spöttischem Lachen riefen sie: „Seht nur die Melsunger! Statt zu arbeiten, wetzen sie ihre Äxte und schwatzen!“ Schnell verbreiteten sich diese Worte im Land, und bald kannte man die Melsunger überall nur noch als die faulen, redseligen Bartenwetzer. Und so erfüllten sich die Worte des weisen Landgrafen und lasteten fortan wie ein Fluch auf den Bürgern der Stadt.
Doch wie die Jahreszeiten sich wandeln, so wandelte sich auch der Spott in sein Gegenteil. Die Melsunger erkannten den Wert der Waldarbeiter, und der Name Bartenwetzer wurde zum stolzen Ehrentitel, den nur ein gebürtiger Melsunger tragen durfte. Die steinerne Brücke, einst Quelle des Unmuts, trägt heute den Namen der Bartenwetzer, und sogar eine Bahnstation ehrt diese in ihrem Namen.
So lehrt uns die Geschichte der Melsunger Bartenwetzer, dass Worte eine verborgene Macht besitzen. Sie können verletzen, aber auch heilen. Sie trennen und vereinen. Was einst als Spott und Hohn begann, wurde zum Segen der Stadt. Diese Mär erinnert uns an Toleranz, Respekt und an die Weisheit, dass wahre Größe in der Achtung der Arbeit und der Geschichten all jener liegt, die unsere Welt Tag für Tag ein wenig heller machen.
Text und Fotos © 2024 - Hans Jürgen Groß
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