Vererbte Schatten - aus der Biografiearbeit

Dr. Hans Jürgen Groß
Zukunft gestalten: WEG- und Wandlungsbegleitung
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Vererbte Schatten - aus der Biografiearbeit

Dr. Gross INFO
Der HERR ist geduldig und von großer Barmherzigkeit
und vergibt Missetat und Übertretung,
aber er lässt niemand ungestraft,
sondern sucht heim die Missetat der Väter
an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied.

(Lutherbibel 4.Mose 14,18)



meinen Eltern Elisabeth und Edgar Groß gewidmet


ERIKA - 1944

Ich heiße Erika und bin sechs Jahre alt. Manchmal stehe ich am Fenster und schaue hinaus. Die Straßen tanzen nicht mehr, und die Wolken scheinen schwer. Früher war alles anders. Ich erinnere mich an Vaters Stimme, die mir Mut machte. „Du bist mein kleiner Stern“, hat er immer gesagt. Wenn er mich hochhob, dachte ich, ich könnte den Himmel berühren.

Doch dann kam der Tag, an dem alles still und laut zugleich wurde. Die Erwachsenen flüsterten, und Vater packte seinen Koffer. „Sei tapfer“, sagte er, aber seine Hände zitterten. Ich wollte ihn fragen, warum er gehen musste, aber ich wusste, dass er traurig war. Danach war unsere Wohnung anders. Es fühlte sich an, als hätte jemand das Licht ausgeschaltet.

Die Welt veränderte sich. Wir mussten die Fenster verdunkeln. „Damit sie uns nicht finden“, erklärte Mutter. Ich mochte die Dunkelheit nicht – sie machte die Schatten größer und unheimlicher. Und dann gab es die Sirenen. Sie klangen wie Schreie, die die ganze Welt zusammenzucken ließen. Mutter hielt meine Hand fest, und wir rannten dorthin, wo die Menschen in Kellern oder Bunkern Schutz suchten. Es roch nach Erde und Angst. Keiner sprach, aber in allen Augen lagen Schreie, die niemand hören durfte. Ich wusste nicht genau, was geschah, nur, dass ich ganz still sein musste – vielleicht, damit die bösen Männer uns nicht hörten.

Manchmal leuchteten am Himmel Lichter, die sie „Christbäume“ nannten. Sie sahen schön aus, wie Sternschnuppen, fühlten sich aber falsch an. Mutter hielt mich dann ganz fest, als könnten diese Lichter uns holen. „Schau nicht hin“, flüsterte sie. Doch ich konnte nicht wegsehen. Ich wollte verstehen, was sie bedeuteten. Aber ich verstand es nicht.

Eines Tages kam Vater zurück. Mein Herz hüpfte vor Freude wie ein kleiner Vogel. Doch als er durch die Tür trat, schien es, als wäre er nicht wirklich da. Er sah mich nicht richtig an, und sein Lächeln wirkte wie ein Schatten. Ich brachte ihm meine Bilder, aber er betrachtete sie, als könnte er sie nicht erkennen. Ich fragte mich, ob ich etwas falsch gemacht hatte. Warum war es so anders? War ich nicht mehr sein kleiner Stern?

Dann kam der Morgen, der alles veränderte. Ein Mann brachte die Nachricht, die wie ein Stein in unser Leben fiel: „Gefallen.“ Mutter brach zusammen. Sie fiel zu Boden, und ihre Tränen flossen wie ein Fluss, den nichts stoppen konnte. „Was bedeutet das?“, fragte ich, aber niemand antwortete mir. Gefallen – wohin? Warum hebt ihn niemand wieder auf? Vielleicht, dachte ich, hatte ich nicht stark genug gebetet, als ich abends mit geschlossenen Augen zu Gott sprach. Vielleicht hatte ich den Zauber falsch gemacht.

Mutter weinte tagelang, und ich wusste nicht, wie ich sie trösten sollte. Ich wollte sie umarmen, wollte stark sein, aber meine Arme fühlten sich so klein an. Es war, als wäre ich unsichtbar. Der Schmerz in unserer Wohnung war so groß, dass ich mich fragte, ob er meine Schuld war. Vielleicht war ich nicht brav genug gewesen. Vielleicht hätte ich mehr helfen müssen. Ich war einfach zu klein und zu schwach, um die Dinge richtigzumachen.

Seitdem denke ich oft nach, wenn ich alleine bin. Ich glaube, dass die Welt gefährlich ist, dass sie plötzlich alles nehmen kann, was man liebt. Ich glaube, dass ich immer wachsam sein muss, dass ich niemandem zu sehr vertrauen darf. Und ich glaube, dass ich nicht genug bin – nicht stark genug, nicht groß genug, um etwas zu ändern.

Aber manchmal, nur manchmal, wenn der Wind die Vorhänge streift und die Dunkelheit ein wenig weicher wird, träume ich von einer anderen Welt. Eine Welt, in der Väter nicht verschwinden, in der Mütter wieder lachen. Eine Welt, in der ich keine Angst haben muss. In diesen Träumen fühle ich mich leicht, wie ein Vogel, der fliegen will. Doch wenn ich die Augen öffne, bleibt nur die Dunkelheit.



UWE - 1969

Mein Name ist Uwe, und ich bin sechs Jahre alt. Glaube ich. Manchmal komme ich mir älter vor, viel älter. So alt wie die Bäume draußen, die Mutti immer meidet, wenn der Wind weht. Sie sagt, sie könnten brechen und auf uns fallen. Dann hält sie mich fest, so fest, dass es wehtut. Ihre Arme zittern, ihr Atem geht schnell, und ich weiß, dass ich für sie da sein muss. Es ist meine Aufgabe, sie zu beruhigen, wenn sie Angst hat. Und sie hat oft Angst – besonders, wenn es blitzt und donnert oder irgendwo eine Sirene geht.

Ich weiß nicht genau, warum sie so oft Angst hat. Manchmal sitzt sie am Tisch und starrt ins Leere, als ob dort etwas wäre, das ich nicht sehen kann. Ich will sie trösten, aber meine Worte scheinen nicht zu helfen. Also nehme ich ihre Hand. Dann lächelt sie kurz, aber ihr Lächeln fühlt sich schwer an, als ob es zu groß für sie wäre.

Wenn ein Flugzeug vorbeifliegt, hört sie es zuerst, lange bevor ich es bemerke. Einmal, als wir spazieren waren und ein Flugzeug sich uns näherte, packte sie mich, warf mich in den nächsten Graben und legte sich schützend über mich, als würde der Himmel gleich auf uns stürzen.

„Pass auf!“, ruft sie oft. Aber ich weiß nicht, wovor. Sie sagt, ich muss immer vorsichtig sein. Denn die Welt, meint sie, ist gefährlich – auch wenn sie manchmal nicht so aussieht.

Manchmal spiele ich draußen im Garten, wenn sie es mir erlaubt. Aber oft endet mein Spiel dann ganz schnell. Ich baue einen Turm aus Steinen oder renne den Schmetterlingen hinterher, und plötzlich ruft ihre Stimme, laut und voller Angst: „Hör auf! Komm her!“ Ich laufe dann zu ihr, mein Herz schlägt schnell, und ich frage mich, was ich falsch gemacht habe. Aber ich darf sie nicht enttäuschen.

Vati ist meistens an der Arbeit. Er arbeitet in Schichten. Wenn er zu Hause ist, muss ich leise sein, weil er schläft.

In den Kindergarten darf ich nicht. Mutti sagt, die anderen Kinder könnten gemein sein, oder ich könnte krank werden. Ich soll bei ihr bleiben, damit sie nicht alleine ist. „Wir brauchen uns doch“, sagt sie oft, und ich nicke. Aber manchmal fühle ich mich seltsam, wenn ich andere Kinder draußen spielen und zusammen lachen sehe. Ich möchte mitspielen, aber ich kann es ihr nicht sagen. Es würde sie traurig machen – und das darf ich nicht.

Ich habe oft Bauchweh, besonders, wenn ich essen muss. Mutti sagt, ich solle nur das essen, was sie mir gibt, denn alles andere könnte gefährlich sein. Ich denke an Schneewittchen und weiß, dass sie recht hat.

„Du kommst bald in die Schule, dann beginnt der Ernst des Lebens“, sagt Mutti. Alle Kinder gehen irgendwann in die Schule. Aber wenn ich daran denke, wird mir ganz flau im Bauch, und mein Hals fühlt sich eng an. Was, wenn die anderen Kinder mich ärgern? Oder was, wenn ich etwas falsch mache? Mutti sagt oft: „Die Welt da draußen ist ungerecht zu uns. Du musst vorsichtig sein.“ Mit uns meint sie sich und mich. Ich weiß nicht genau, was sie damit meint. Aber ich weiß, dass die Schule Teil dieser Welt ist – und das macht mir Angst.

Mutti erzählt mir Geschichten, in denen Gefahren lauern. Fremde Menschen könnten böse, und Essen und Süßigkeiten vergiftet sein. Sie sagt, es gibt Kindermörder, die kleine Jungen fangen. Sie weiß, wie die Welt ist, und sie versucht, mich zu schützen. Ich muss  immer aufpassen.

Ich weiß, wie ich sie glücklich mache – meistens jedenfalls. Wenn sie lächelt, fühle ich mich, als hätte ich etwas richtig gemacht. Aber wenn sie traurig oder wütend ist, wird alles schwer, und ich weiß nicht, wie ich es besser machen soll. Wenn sie sagt: „Komm wieder, wenn du lieb bist“, und dann schweigt, denke ich, dass ich böse bin. Ausgesetzt und verloren, so wie Hänsel und Gretel.

Ich habe gelernt, dass die Welt gefährlich ist. Man darf ihr nicht trauen. Alles Unbekannte, Fremde könnte schlecht sein, könnte mich verletzen. Ich fühle mich oft unsicher und gleichzeitig schuldig, als hätte ich etwas Dummes getan. Ich bin dafür verantwortlich, dass nichts Schlimmes passiert – das hat sie mir oft gesagt. Und ich glaube, es stimmt.



SVENJA - 2000

Gestern bin ich sechs Jahre alt geworden. Mein Name ist Svenja. Manchmal sehe ich Papa an und frage mich, warum er so oft traurig aussieht, auch wenn er nicht weint. Er sagt nicht viel, aber ich merke, dass ich ihn nicht stören darf, wenn seine Stirn diese Falten macht. Dann sitzt er am Tisch und schaut vor sich hin, und ich bleibe ganz leise. Ich glaube, er denkt dann viel nach, vielleicht über Oma und sich. Papa redet selten von ihr, aber wenn er es tut, wird seine Stimme laut. Ich weiß nicht, warum.
Ich wohne nur bei Papa. Meine Mama ist nicht hier. Bevor sie gegangen ist, hat sie gesagt, ich solle bei ihm bleiben. Manchmal frage ich mich, ob ich etwas falsch gemacht habe, dass sie nicht mehr da ist. Ich vermisse sie, aber ich traue mich nicht, das Papa zu sagen. Ich will nicht, dass er noch trauriger wird.

Papa sagt oft: „Du musst lernen, stark zu sein.“ Ich weiß nicht genau, was das bedeutet, aber ich versuche es. Wenn ich weine, sagt er: „Hör auf, das bringt nichts.“ Dann sehe ich, dass meine Tränen ihm wehtun, und ich schlucke sie runter. Ich tue so, als ob alles in Ordnung wäre. Es ist schwer, aber ich will Papa nicht enttäuschen. Er hat so viele Sorgen, und ich glaube, ich muss ihm helfen. Das ist wohl meine Aufgabe.

Wenn Oma uns besucht, fühlt sich alles anders an. Sie umarmt mich so fest, dass es fast wehtut, und ihre Augen sehen aus, als ob sie etwas sucht, das fehlt. „Mein kleiner Sonnenschein“ nennt sie mich  und dass ich etwas ganz Besonderes sei. Sie lobt meine Bilder, auch wenn ich finde, dass sie nicht gut geworden sind.

Oma sagt oft, ich solle vorsichtig sein, weil die Welt gefährlich ist. Und ich solle Papa keinen Ärger machen. „Er hat genug durchgemacht“, meint sie. Ich frage mich, was genau sie damit meint. Es klingt wichtig, aber ich verstehe es nicht richtig.

Neulich haben mich die Kinder im Kindergarten geärgert. Als ich es Papa erzählte, hat er mich in den Arm genommen und gesagt, dass er früher auch geärgert wurde. Das hat mir ein wenig geholfen. Aber als Oma davon erfuhr, schimpfte sie mit Papa. „Erzähl keine Lügen. Du hattest doch viele Freunde, alle mochten dich.“ Ich weiß nicht, warum sie das sagt, aber ich glaube, das hat Papa wütend gemacht. Er hat nichts gesagt, aber ich konnte es spüren.

Ich verstehe nicht, warum Papa und Oma sich manchmal nicht vertragen. Vielleicht liegt es an mir. Vielleicht mache ich etwas falsch. Wenn sie laut werden, verkrieche ich mich in eine Ecke und mache mich ganz klein. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, ich wäre unsichtbar. Vielleicht würden sie sich besser verstehen, wenn ich nicht da wäre.

Ich liebe Papa und Oma, aber ich habe das Gefühl, ich müsste perfekt sein, damit sie glücklich sind. Immer alles richtig machen. Ich weiß nicht, ob ich das kann. Aber ich muss es versuchen, weil ich sie nicht enttäuschen will. Ich will, dass sie mich lieb haben.

Abends im Bett, wenn ich alleine bin, träume ich von einem Ort, an dem ich einfach spielen kann. Einen Ort, an dem ich nicht immer aufpassen muss. Wo die Welt nicht gefährlich ist und ich keine Angst haben muss, etwas falsch zu machen. Aber diesen Platz finde ich nicht.


Nachtrag – Gegenwart: Svenja erwartet im Frühjahr des kommenden Jahres ihr erstes Kind. Es wird ein Junge sein. Wie wird er wohl seine Welt erleben? Was wird er über sich und die Erwartungen, die an ihn gestellt werden, glauben? Wird die Saat des alten Krieges verdorrt sein und keine neuen Blüten mehr hervorbringen?

Welche Schatten unserer Taten werfen wir auf unsere Kinder und Enkelkinder?

© 2024 - Hans Jürgen Groß



Für weitere Informationen, siehe auch:
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